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Adventsstern gegen den wohlfeilen Tod

12. Dezember 2017

Ich habe zum Advent einen großen Papierstern ins Fenster gehängt.  Er ist innen beleuchtet. Wir wohnen an einer Straßenecke, – wenn es dunkel ist, kann man ihn weithin sehen, fast die ganze Straße hinunter. Festlich rot und schön!

Wer vorbeigeht, wird das vielleicht als anheimelnd empfinden, oder einfach als typische Festtagsdekoration.

Was man nicht sieht, ist der Zorn, die Trauer und der Trotz, mit denen ich den Stern in die Dunkelheit der Welt gehängt habe.

„Bitte haltet die Welt an. Es ist ein Mensch verloren gegangen.“ – Diese Twitter-Nachricht erreichte mich vor zwei Wochen. Die Schwester einer lieben Freundin hatte sich das Leben genommen. Depressionen. „Der Krebs der Seele“, wie jemand sagte, „unberechenbar, heimtückisch, tödlich.“

Vorsicht: Weiterlesen TRIGGERT möglicherweise suizidgefährdete Personen. Alle, die mit solchen Gedanken umgehen, bitte ich inständig, sich fachliche Hilfe zu holen und sich vertrauenswürdigen Menschen anzuvertrauen. Im Notfall führt dieser Link weiter: => Telefonseelsorge.

Stern

Fotos – ich kenne die Familie nicht – zeigen eine schöne junge Frau, unkonventionell, unternehmungslustig, freakig. Und dann das: ein geradezu professionell durchgeführter Suizid.

Das Ende eines so jungen Lebens ist bitter, egal, auf welche Weise es kommt. Aber bei Suizid kann ich den Tod viel weniger akzeptieren als bei einer Krankheit, gegen die die Ärzte vergeblich gekämpft haben. Ich denke, vielleicht ist es wie mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings, der entscheidend für den Ausbruch eines Taifuns ist. Oder der ihn verhindert. Eine Kleinigkeit, und es wäre vielleicht ganz anders gekommen. Vielleicht würde das Mädchen noch leben, wenn an diesem Novembertag die Sonne geschienen hätte. Wenn ein lieber Mensch  gekommen wäre, ein Brief, eine Einladung…

Die junge Frau hatte ein E-Book heruntergeladen. Eine Anleitung zum perfekten Suizid. Ausweislich des Klappentextes keine Erörterung ethischer, philosophischer oder religiöser Fragen zum „selbstbestimmten“ Tod, sondern eine minutiöse Beschreibung dessen, wie man es anstellt, damit es auch todsicher ist. Und wie man die Mittel bekommt. Zu haben für 9,95 € beim Online-Händler. Extrem triggernd für alle Suizidgefährdeten.

Ich brauchte nicht mal den Titel und Verfasser. Einfach Suchbegriff eingeben und auf die Enter-Taste, und ich war da. Ganz einfach geht das. Anleitung runterladen, Utensilien bestellen, einfach, schmerzfrei, sicher, sauber. Nichts, was bremst, erschreckt, hindert. Kein Blick in die Tiefe, der einen instinktiv zögern lässt, kein Schaudern vor einem gruseligen Szenario, keine Scheu vor Schmerzen. Alles glatt.

Und das macht mich zornig.

Es war also kein zarter Schmetterling, der den falschen Flügelschlag tat, sondern ein Drache. Ein Drache mit großen, starken Flügeln. Und mit Absichten.

Die Autorin des Buches würde sicher auf dem Begriff „selbstbestimmt“ herumreiten, wenn man sie darauf ansprechen würde. Aber was ist denn Selbstbestimmung angesichts einer Depression? Ist ein depressiver Mensch denn frei?

Gewiss, oft, zu oft ist die Depression unerbittlich und fordert ihren Tribut. Manchmal  ohne das jemand etwas ahnt, heimtückisch und hinterhältig wie ein Dämon. Dann hilft kein Grübeln der Hinterbliebenen, kein hätte, wäre, könnte. Das ist dann so. Wie bei Krebs.

Aber wie bei Krebs lohnt es sich, um Heilung, wenigstens um Linderung zu kämpfen. Auch wenn Rückfälle drohen. Auch wenn Das Leben dann mit Einschränkungen verbunden ist.

Ich kenne Menschen, die in einer Depression ihren Suizid planten, dann ihre Krankheit überwanden und nun ein erfülltes, schönes Leben haben. Eine Bekannte überlebte einen Sprung aus dem fünften Stockwerk, – sie wurde nicht einmal bewusstlos! – führte dann aber ein glückliches Leben als Künstlerin. Meinem Großvater nahm der Ruin seines Geschäftes die Lebenshoffnung. Hätte er nur einen einzigen, geradezu läppisch wirkenden Rat angenommen, wäre die Firma gelaufen und er hätte sich das Leben nicht nehmen müssen. Ich könnte die Liste fortsetzen.

In diesen Minuten wird die Schwester der Freundin beerdigt. Das Schicksal, gut geschmiert durch eine perfekte Anleitung, hat zugeschlagen,  der Tod seine Ernte gehalten.

Und dagegen setze ich dieses Zeichen. Aus purem Trotz.

Ein Stern im Dunkeln.

Advent.

Erwartung eines Heils, auf das ich hoffe.

Die Finsternis hat nicht das letzte Wort.

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Wie meine Freundin mit dem Tod ihrer Schwester umgeht, beschreibt sie => hier.

From → Allgemein

3 Kommentare
  1. Anonymous permalink

    Das berührt mich sehr. Danke für diesen Stern!

  2. Hat dies auf textschiff rebloggt.

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